17.04.15

Geisterstunde


Das Haus meiner Eltern ist zweigeteilt. Wenn ich mit Mann und Kind zu Besuch bin, können wir drei uns auf beide „Trakte“ verteilen. Unser Sohn schläft dann im in den 1970er-Jahren neu dazu gebauten und wir beide wandern durch eine Schiebetür in den alten Teil des Hauses, den mein Opa und meine Oma nach dem Krieg gekauft haben. Aus dem typischen kleinen ebenerdigen Waldviertler Giebeldachhäuschen wurde ein einstöckiges Gebäude. Unser Sohn kann die Nähe zu seinen Großeltern ungestört genießen. Mein Mann und ich nächtigen im Schlafzimmer meiner Großeltern.

Neben dem Fenster hängt das Hochzeitsbild der beiden. Sie waren damals ca. 25 und 30 Jahre jung. Das Bild ist in Farbe; nachträglich coloriert, so wie damals viele Bilder. Denn eigentlich gab es meist nur schwarz-weiß-Fotografie. Das Hochzeitshemd meines Opas ist aus einem Leintuch geschneidert. Festliche Kleidung war in den Nachkriegsjahren Mangelware. Wo meine Oma ihr Kleid herhatte, weiß ich nicht. „Ich habe alles vergessen“, sagte sie mir auf viele meiner Fragen vor einem Jahr. Auch wie, wo und wann sie Opa kennengelernt hatte. Darüber lassen sich nur Vermutungen anstellen. Denn auch mein Papa, der Älteste von vier Kindern, weiß nur teilweise Bescheid. Doch weiß er Geschichten zu erzählen wie etwa jene, dass mein Opa eine Herdplatte aus der Küche abmontiert hatte, weil ein Kunde gerade eine brauchte und er keine im Lager hatte. Auto besaß er lange Zeit keines. Er fuhr mit dem Motorrad zu seinen Kunden. Kabelrollen geschultert und den Werkzeugkoffer am Sozius verstaut. Das war der Beginn seines Unternehmerdaseins als Elektriker.

Irgendwann expandierten sie auf Drängen meiner Oma und mieteten einen Standort in Horn, in der Bahnstraße 30. Einmal pro Woche, wenn meine Mutter auf der Post arbeitete, fuhr ich mit. Ich war damals etwa vier. Ich erinnere mich an mein Kakaoflascherl, das stets mit dabei war. An das obligatorische Mittagessen im Gasthaus Blie, das in meinem Fall stets aus Fritattensuppe und zwei Marmelade-Palatschinken bestanden hatte. Auch habe ich die Berge von Papier auf dem Schreibtisch und die Rechenmaschinen, die noch mehr Papier produzierten, noch immer vor Augen. Die Holzfurnier der Schreibtische verschwand gänzlich unter den Zahlenrollen, Ordnern, Kassabüchern und Ähnlichem. Ob ich damals schon beschlossen habe: „Nein, ich will nicht im Büro arbeiten und meine Zeit mit Zahlen verbringen!“? Ich glaube nicht. Denn mit Geldverdienen brachte ich dieses Tun damals sicher nicht in Verbindung; zumal ich an den warmen Tagen hinten in den Garten raus konnte. Dort „lebte“ eine für mich damals uralte Frau namens Baumhauer, mit der ich viele Nachmittage verbrachte.

Meine Oma konnte sich bis 90 noch ganz gut selbst versorgen; bis die Zwischenfälle mit dem Rauchmelder aufgrund von vergessenem Essen auf der Herdplatte zu häufig wurden. Der gebrochene Oberschenkelhals in einem langen Winter war dann der letzte Anstoß, um nach externer Hilfe für sie zu suchen. Da übersiedelte sie zum Schlafen in die Bauernstube in ein Spezialbett und hat seither eine 24h-Heimhilfe.

Auch diese Ostern schliefen wir im Schlafzimmer mit besagtem Bild neben dem Fenster. In der letzten Nacht schreckte ich aus einem Traum hoch. Die Tür stand offen, Licht schien vom Gang herein. Meine Oma stand beim Fenster, eine Hand auf dem Heizkörper und sagte: „Do stimmt wos ned.“ Ja, natürlich nicht. Ein fremder Mann lag in Opas Bett.

In jener Nacht versuchte ich meine ca. 1,50 große Oma wieder zurück in ihr Bett zu bringen. Doch sie dirigierte mich mit einer aus dem Irgendwo kommenden Kraft in die Küche meiner Eltern mit der sich wiederholenden Aussage: „Do stimmt wos ned.“ Auf die Frage, was sie denn suche, sagte sie:  „Wo ist denn das Büro?“ Ein solches gab es meines Wissens hier nie. In ihren Augen konnte ich sehen, dass sie nicht wusste, wer sie war und wo sie sich befand. Mit viel gutem Zureden brachte ich sie zurück in die Bauernstube. Ich spürte die Erleichterung in ihrem Körper. In diesem Zimmer fand sie sich wieder zurecht. Von unseren Stimmen war auch Joana wach geworden. Die Pflegerin legte meine Oma wieder ins Bett. Ich hörte die beiden noch eine ganze Weile diskutieren, denn meine Oma wollte partout wieder aufstehen. Vor 25 Jahren war sie noch ganz resolute Geschäftsfrau. Diese Entschlossenheit hat sie auch heute noch.

Das Auswirkungen des Alters betreffen uns (fast) alle früher oder später. Tag für Tag kommen wir ihm näher. Zuerst lässt die Sehkraft nach. Dann fragt man beim Plaudern des öfteren nach, weil die Worte nicht wie oft gehörte klingen. Das Stiegensteigen kann mühsam werden. Und generell schwindet die Kraft der Muskeln. Doch unser Gehirn gaukelt uns lange noch vor, am Zenit unserer Leistungsfähigkeit zu sein. Ab wann werde ich Dinge tun oder sagen, über die sich mein Umfeld nur noch wundert? Wenn es soweit ist, werde ich es höchstwahrscheinlich nicht mitbekommen.