30.10.15

Fernsehen einst und jetzt


„Fernsehen ist Volksverblödung“, sagte mein Onkel. Wir waren noch Kinder und gierten nach Serien wie Bonanza und Mondbasis Alpha 1. Doch in jenen zwei Wochen im Sommer in St. Pölten, die meine Schwester und ich bei meiner Oma verbrachten, war die Zeit fernseherlos. Oder zumindest sehr reduziert. Meine Oma lebte gemeinsam mit ihren beiden erwachsenen Söhnen in einer Mietwohnung unweit der Franziskanerkirche.

Des Abends hörten wir jenen Onkel, der immer zu Hause war – im Gegensatz zu seinem Bruder – und unsere Oma lachen, wenn sie über einen Gag in schallendes Gelächter ausbrachen (vorzugsweise meine Oma), den zu sehen uns nicht bestimmt war. Lagen wir doch schon längst verteilt auf Diwan und französischem Bett im Schlafzimmer. Meine Oma saß strickend im Schaukelstuhl. Mein Onkel hinter seinem Zeichentisch auf einem bequemen Büro-Chefsessel im Kabinett vor dem Fernseher. In den 1970er-Jahren stand da ein beleuchtetes Schiff drauf. Angeblich, um den Augen etwas Gutes zu tun, falls man zu lange in die Röhre starrte.

Mein Onkel unterschied zwischen guten und schlechten Sendungen. Filme mit Jerry Lewis und Dean Martin zählten in seinen Augen zu den guten. Die meisten anderen waren schlecht.

Doch einmal schlug das Schicksal ihm ein Schnippchen. Das Begräbnis einer verstorbenen Großtante führte Onkel und Oma nach Wien-Hietzing. Und wir fuhren für den Nachmittag nicht zurück ins Waldviertel, sondern blieben bei Omas Schwester – in einer kleinen Wohnung, die mir damals regelmäßig klaustrophobische Gefühle bescherte. Doch an dem Nachmittag war die Größe unwesentlich. Im Fernsehen lief die Hochzeit von Diana Spencer und Prinz Charles. Ich währte mich für einige Stunden lang im siebenten Himmel; war noch ganz im Prinzessinnenland, als wir zu meiner Oma zurückfuhren.

Der Kopf mühte sich noch mit der Verdauung der gesehenen Bilder. Und auch der Magen hatte einiges in kleinere Teile zu zerlegen: Palatschinken und Guglhupf waren an jenem Nachmittag der Popcorn-Ersatz.

„Du wirst noch viereckige Augen kriegen.“ Eine Warnung, die ich als Kind stets auch von meinen Eltern hörte, sollte ich mehr als eine Stunde vor dem Fernseher zubringen. Der TV-Konsum war in meiner Familie für uns Kinder generell rationiert – obwohl im Geschäft meiner Eltern stets zig neue Modelle in der Braunwaren-Abteilung standen. Eine Bezeichnung aus jener Zeit, da die HiFi- und Fernsehtechnik noch in edle Hölzer gefasst war.

Um 19.30 Uhr nach der Vorabendserie war Schluss. Die Sendungen des Hauptabendprogramms waren bis zum Ende meiner Schulzeit großteils Second-Hand-Ware. Ich erfuhr die wesentlichen Geschichten und Details von Schulfreundinnen. Und die daraus in meinem Kopf generierten Filme waren sicher spannender als das Geschehen im Fernsehen. Allerdings war ich froh, dass der Schuss auf J.R. Ewing just in die Sommerferien fiel, denn so konnte ich „live“ dabei sein, als das Ölmagnaten-Familien-Imperium aus Dallas gerade wieder durch sämtliche Höhen und Tiefen ging.

1997 verstand ich nicht, dass meine Freundin und Reisebegleiterin den Großteil unserer Zeit auf Rhodos vor dem Fernseher verbrachte, als die geborene Lady Spencer in Paris bei einem Autounfall starb. Nicht, dass mir ihr Tod egal gewesen wäre. Doch blieb es mir ein Rätsel, wie man sich die Bilder und Kommentare zu einem Ereignis Stunde um Stunde, Tag für Tag stets wieder ansehen konnte.

Als ich 1990 nach Wien zog, hatte ich einen kleinen Röhrenfernseher dabei. Er diente eher als Staubfänger denn als Unterhaltungsgerät. 2001 übersiedelte er nicht mehr mit mir vom neunten in den dritten Bezirk. Ich habe ihn nie vermisst. Und wenn ich heute ab und zu mal in einem Hotel in eine Flimmerkiste schaue, drehe ich meist genervt nach wenigen Minuten wieder ab. Die Filme sind synchronisiert (wenn ich mal im deutschsprachigen Fernsehen bleibe – so wie anno dazumal) und alle anderen (Reality-)Shows für mein Leben von wenig bis keiner Relevanz. Doch sogar das Schauen im Hotelzimmer interessiert mich mittlerweile nicht mehr. Zu groß ist der Verlust an Zeit und Leben, um mich dem passiven Schauen hinzugeben.

Aber auch ich bin ein normaler Mensch; das beweist unser Wand füllendes Bücherregal: Ein Teil ist den DVDs gewidmet. Mad Men, Battlestar Galactica, Medium, 4400, Lost, Desperate Housewives, Game of Thrones, Life on Mars – all das schaute ich „nur“ auf dem Computer. Und oft natürlich in Serie. Sprich: An manchen Abenden drei Folgen am Stück (bevor unser Sohn auf die Welt kam). Von mehr hielten mich die daraus stets resultierenden Kopfschmerzen ab. Aber es ist zu verlockend, gleich am selben Abend zu erfahren, wie es denn nun mit Starbuck, der Liebe von Susan und Mike oder Don Draper weiterging. Und ob der Winter nun wirklich kommt und die Starks in alle Winde zerstreut bleiben.

Dem eingangs erwähnten Satz meines Onkels konnte ich über die Jahre mehr und mehr abgewinnen. Und unser Sohn wächst nicht zuletzt deshalb ohne Fernseher auf. Was er wohl einst über seine Kindheit und Sehgewohnheiten sagen wird? Ich werde es vielleicht in zwei, drei Jahrzehnten auf einem heute noch nicht existenten Kanal erfahren – oder auch nicht.

09.10.15

Gastfreundschaft


Das Haus meiner Eltern war nie versperrt, als wir Kinder waren. Durch das Tor konnte jeder herein. Und wenn er sich auskannte, fand er auf dem Weg durch die für drei bis vier Autos Platz habende längliche Garage auch die Tür zu unserer Wohnung. Die stand ebenso offen. Viele beließen es in jener Zeit, unten zwischen der zum Elektrounternehmen gehörigen Werkstatt und unserer Wohnungstür stehenzubleiben und „Hallo, Frau Ziegelwanger“, nach meiner Mutter zu rufen. Das waren dann meist Menschen aus dem Dorf, die dringend etwas für Hof und / oder Heim brauchten: Sicherungen, Steckdosen, Kabel, Drähte oder ähnliche wichtige Utensilien für den Heimwerker. Jene, die zu Gast kamen, kletterten die drei Stiegen-Absätze nach oben und marschierten schnurstracks in Richtung Küche.

Ich wuchs in diesem offenen Haus auf. Meine Eltern feierten Geburtstage und andere (wilde) Partys, von denen heute noch Fotos zeugen – vor orange-braun-beigen Tapeten im Wohnzimmer; auf knallgelben Fauteuils, in die Luft eingepumpt werden musste wie in ein Schlauchboot. Natürlich gab es immer ausreichend zu essen. Und so standen wir bereits als Kinder in der Küche und machten Spießchen mit Käse, Weintrauben, Wurst und anderen Leckereien, die wir auf einen großen Krautkopf steckten. 1970er-Jahre eben. Für uns gab es – so wir eine Weile dabei bleiben durften – das sonst nie in unserer Speisekammer zu findende Fanta oder Keli Himbeer zu trinken. Was die Erwachsenen tranken, weiß ich nicht mehr.

Es dauerte in etwa bis zu meinem zehnten oder elften Geburtstag, da ich selbst die erste Silvesterparty organisierte. Ganz ohne Eltern; die feierten ein paar Häuser weiter mit ihren Freunden. Mein erstes Buffet war bunt: neben den von Weihnachten übrig gebliebenen Schoko-Nuss-Schnitten türmten sich belegte Brötchen mit einem Mayonnaise-Ketchup-Senf-Gemisch, gefüllte Eier und die obligatorischen Rollmöpse für Mitternacht. Wir drehten die Stereoanlage im Wohnzimmer bis an die Dezibelgrenze auf und tanzten zu Duran Durans „Wild Boys“ bei rot-blau-grüner Discobeleuchtung.

Wir wurden älter – und die (Silvester) Partys etwas wilder. Ich erinnere mich noch an den Satz: „Lieber, ihr feiert bei uns zu Hause, als ihr fahrt in dieser Nacht irgendwo mit dem Auto herum.“ Und so kam es, dass unsere Gäste immer wieder mal bis zum Neujahrstag blieben und dann bei Kaffee und Mohnstrudel über die vergangene Nacht plauderten, sofern sie nicht von einer besorgten Mutter nach Hause geholt wurden.

Als ich meinen Lebensmittelpunkt nach Wien verlagerte, änderte dies nichts an den offenen Waldviertler Türen für meine Freundinnen. Unter der Mansarde, wo ich immer noch residierte, wenn ich daheim bei meinen Eltern war, gab es stets genug Platz für mindestens drei oder vier zusätzliche Schläferinnen. Und auch der Kühlschrank schien irgendwo eine „Zauberlade“ zu haben – denn er blieb stets gut gefüllt (danke!). Für mich war das immer selbstverständlich. Und ich reagierte mit Verwunderung, dass es anderswo nicht so offen gehandhabt wurde wie bei uns daheim.

Ich erinnere mich auch noch an den Herbst 1994. Da feierten meine Eltern ihre silberne Hochzeit. Zur Party kamen groß und klein und jung und alt. Und als die Älteren damals den Garten und den Zubau hinter dem Garten verließen, feierten wir Jungen mit unseren Freunden noch ein paar Stunden weiter. Natürlich gab es den obligatorischen Tequila Sunrise im 20 Liter fassenden Plastik-Bottich. Und einen, der es mit dem Auto nicht mehr in den drei Kilometer entfernten Nachbarort schaffte, sondern der bei uns übernachtete; am nächsten Morgen jedoch aufs Frühstück dankend verzichtete.

Geht das auch in Wien? Nur bedingt. Meist kündigen sich Gäste an, als dass sie plötzlich vor der Tür stehen. Nicht so am Mittwoch Abend dieser Woche: Kurz vor sechs läutete es. Brandon, das Au-Pair eines Kindergartenfreundes von Colin, stand vor der Tür, um von uns geliehene DVDs retour zu bringen, bevor er wieder nach New York zurückflog. Das nächste Bimmeln war unser Nachbar, der uns zwei Sackerl mit Sachen von ihrem für unseren Sohn vorbeibrachte. Brandon blieb dann zum Abendessen und sagte, dass er noch nie irgendwo so herzlich aufgenommen und bewirtet worden war wie bei uns; nicht nur an diesem Abend. Und er nahm sich das für sein weiteres Leben vor: ein guter Gastgeber zu sein. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es sich nicht im geringsten angekündigt, dass wir auch nur irgendeinen Eindruck bei ihm hinterlassen hätten. Scheinbar muss der Spruch: „Die Wiener werden erst beim Abschied herzlich.“ neu überdacht werden.

Dass an jenem Abend etwa eine Stunde später meine Eltern überraschend vor der Tür standen und läuteten – auch damit hatte niemand gerechnet. Da ich allerdings auf einem Netzwerktreffen war und Erwin das Klingeln nicht gehört hatte, gingen sie wieder, ohne Einlass gefunden zu haben. Sie ließen jedoch ein Sackerl für ihren Enkel an der Tür hängen. Meine Eltern haben ihr Waldviertler Vertrauen in die Menschen nach Wien mitgebracht und es wurde nicht enttäuscht. Stunden später hingen Sackerl und Inhalt noch an der Türschnalle, als ich vor Mitternacht nach Hause kam.