Zuagraste
(Zugereiste) – ein Wort, das selbst mein Standardwerk in lokaler
Übersetzungshilfe „Waldviertlerisch von
Aschlings bis Zweringst“ nicht in seiner Auflistung hat. Und doch kenne ich
diesen Begriff von Kindesbeinen an. In unserem Dorf gab es in den 1970er- und
80er-Jahren, als ich noch dort wohnte, wenig bis gar keine von ihnen. Bis dahin
waren die „Gscherten“ die mit gemeiner Vorliebe so bezeichneten WienerInnen mit
Wochenendhäuschen.
Mein
Heimatort war für sie jahrelang – so scheint es – nicht sonderlich attraktiv.
Da spielte wahrscheinlich die unmittelbare Nähe zum Truppenübungsplatz mit. Er
war wie ein zweiter Eiserner Vorhang. Der Schlagstock grenzte mehr oder weniger
direkt an die Ortstafeln. Und wer wird des Morgens schon gern von tief
fliegenden Militärflugzeugen geweckt? Oder freute sich über Schießübungen
hinter dem Gartenzaun? Solche großen Manöver hatten meist zur Folge, dass mehr
als hundert Soldaten in unserem Dorf sich in den damals drei Gasthöfen
verteilten. Sie verwendeten die Tanzsäle als Schlafstätten und absolvierten
ihren Morgenappell, wenn wir Schulkinder auf den Bus warteten. Eine solche „Belagerung“
dauerte meist mehrere Wochen an.
Bei den Schießübungen
des Bundesheers vibrierten unsere Fenster. Mein damals noch kleiner Bruder floh
bei diesen Einsätzen in einen Winkel der Garage und hielt sich die Ohren zu,
damit er das donnernde Grollen nicht hörte. Wohl nicht zuletzt deshalb fanden
sich die ersten von Wochenend-Wahl-WaldviertlerInnen gebauten Häuser einige
Ortschaften entfernt. Mein Dorf wurde lange ausgespart.
Erst Ende
der 1990er-Jahre gab es die Kunde: Da ist ein Journalist aus Wien eingezogen.
Aha. Und als aufmerksame Einser-Kastl-Leserin des Standard wusste ich auch
bald, welcher. Auch wenn ich ihn tatsächlich bis heute nie zu Gesicht bekommen habe.
Zu jener Zeit sprach man in meinem Umfeld nicht mehr (oder nur wenig) von den
„Gschertn Weanern“. Es hatte die Runde gemacht, dass dies nicht die
freundlichste Ansprache für den Neuzugang war.
Das mit der
herabwürdigenden Betitelung „Gscherter“ funktionierte in beide Richtungen –
auch wenn es nicht bis zu meinen Ohren vordrang. Denn die WienerInnen fuhren
mit Vorliebe aus der großen Stadt zu den „Gschertn“ aufs Land. Eine meiner
Freundinnen – eine echte Hietzingerin – schleppte ich auf Waldviertler
Feuerwehr- und Sportlerbälle ins damals einzig offene Gasthaus mit. Sie wähnte
sich inmitten von eine fremde Sprache sprechenden seltsamen Zeitgenossen. Die
Sprachbarriere schwand nach mehreren Sekt-Orange oder Cola-Bacardi in der
Schnaps-Bar auf ein erträgliches Maß.
„Gschert“
geht auf die alten Germanen zurück. Das Scheren (Schneiden oder Stutzen) von
Haupt- und Barthaar war bei ihnen verpönt, da es ein Zeichen von Unfreiheit
war. Nur Leibeigene, Gefangene oder Verbrecher mussten ihr Haupthaar lassen. Gschert
oder nicht. Unfrei war im Waldviertel im 20. Jahrhundert keiner mehr. Oder nur
manche wenige – wie ein Knecht, den ich als Kind noch kannte.
Doch gehört
es zu den Eigenarten des Waldviertels und der dort wohnenden Menschen, jene von
außen Kommenden mit wachsamen Augen zu verfolgen und so manches in deren Tun
hinein zu interpretieren. Auch meine Mutter galt lange Jahre als nicht
Heimische. War sie doch 1969 aus St. Pölten „zuagrast“ und hatte keine hiesigen
Wurzeln. Dass mein Opa in den 1940er-Jahren aus der gleichen Stadt ins gleiche
Dorf gekommen war, hatten „die Eingeborenen“ bis dahin schon wieder vergessen.
Wenn ich als
Wahl-Wienerin heute mal wieder in meine alte Heimat zurückkehre, bin ich wohl
ein Zwitterwesen. Nicht „zuagrast“ aber auch nicht mehr „daham“. Aber wenn ich länger
drüber nachdenke, macht es vielleicht Sinn, wieder zu meinen Wurzeln
zurückzukehren. Denn auch „Wald“ wurde von einer Journalistin aus Wien (wahrscheinlich)
wenige Kilometer von meinem Heimatort niedergeschrieben.
Statt mit offener
Ablehnung werden die zwei schreibenden „Zuagrasten“, die in näherer und etwas
weiterer Umgebung meines Elternhauses leben, mit verstecktem Stolz bedacht.