Die Haare sind
zu lang, werden zu den Spitzen hin dünner und dünner. Und generell fehlt ihnen
nach dem letzten Touchieren der Spitzen jegliche Fasson. Also war es an der
Zeit, bei Christian anzurufen und einen Termin zu vereinbaren. Der Blick in den
Spiegel ist derzeit nur bedingt freudvoll. Okay, die Ränder unter den Augen
waren des Morgens auch schon mal weniger tief. Dagegen kann er allerdings
nichts tun.
Christian
halte ich seit sechzehn Jahren die Treue. Zwei bis drei Mal pro Jahr fahre ich
in den sechsten Bezirk und unterhalte mich über Fernsehserien, Kinofilme,
Rennradfahren und vegane Ernährung. Währenddessen fallen die Haare zu Boden –
mal nur zwei Zentimeter, mal ganze zwanzig. „Spitzen streicheln“ nennt es mein
Mann, wenn ich mit nur einem Zentimeter weniger nach Hause komme. Zu viel mehr
ringe ich mich nur selten durch.
Dass unser
Sohn wie Christians Erstgeborener heißt, das ist ein Mittelding von Zufall und
Absicht. Wir suchten nach einem männlichen Pendant für Alana und stießen bei
unseren Recherchen auf Colin. So ein Friseurbesuch kann langfristige Folgen
haben. Auf vegane Ernährung bin ich allerdings noch nicht umgestiegen.
Vor
Christian wechselte ich meine Haarschneider in Wien etwa alle halbe Jahre. Im
Waldviertel war das anders. Da wurde ich erst zwanzig, bevor ich den ersten
Friseursalon von innen sah. Als meine Geschwister und ich Kinder waren, rückte
meine Mutter regelmäßig mit der Schere an und stutzte uns die Haarpracht – ohne
Lineal, ohne Ausbildung und zum Glück nicht mit der Schneiderschere.
Ich
bewunderte stets die Mädchen mit langen Haaren und geflochtenen Zöpfen. Zu
gerne hätte ich auch so einen den Rücken bis zum Po hinunterbaumeln gehabt. Es
blieb beim Wunsch, denn lange Haare machten angeblich viel zu viel Mehrarbeit.
So in etwa hieß es, sobald meine Haare sanft die Schultern streichelten.
Als ich vom
Kind zum Teenager heranreifte, – wir schrieben die 1980er-Jahre – kam der
unbedingte Wunsch nach einer Dauerwelle. Ich hatte meine erste – glaube ich
mich zu erinnern – mit elf oder zwölf. Sie entsprach allem, nur nicht meinen
Erwartungen von schönem lockigem und vollem Haar. Eine Frau aus dem Dorf, die
sich ihren Lebenstraum als Friseurin im Keller ihres Hauses verwirklicht hatte,
rührte die Paste, verteilte sie in meinem Haar, ließ sie einwirken, nachdem sie
die Haare auf eine ortsübliche Länge (Kurzhaar war damals sehr angesagt)
zurecht geschnitten hatte.
Ich war mit
ihrer Tochter und Stieftochter befreundet – und so gab es, wenn die Mädels
dabeisaßen, stets etwas zu bereden. Über den nächsten Discobesuch, das
letzte Feuerwehrfest, die
Fußballer des SV Pölla und weiteren Klatsch und Tratsch, der für Teenager in
unseren Breitengraden von immenser Bedeutung war.
Natürlich
machte ich auch mit, als die genannten Töchter ihre wasserstoffblondierte
Strähnchen-Phase hatten. Dieses Blond war die damalige It-Farbe; zumindest in
Österreichs kaltem Norden, wo sich Fuchs und Hase „Gute Nacht“ sagen und die
Novembernebel stets lange und tief in den Gräben hingen. An der Düsternis im
Spätherbst hat sich bis heute nichts geändert. An den Farben und Frisuren der
Frauen auch nicht allzu viel.
Heute lasse
ich nur noch Wasser und Shampoo in meine Haare – und Christians Schere.
Jegliche Farbgebung und Wellenbewegung interessiert mich nicht. Auch wenn sich
bereits die ersten weißen Haare zeigen. Wenn sie mehr werden, dann komme ich
eben in die „graue Phase“ meines Lebens. Künstlich einen Schein zu wahren, liegt
mir nicht. Bei meinem Besuch in den nächsten Tage in seinem Studio werden wir
sicher wieder einiges zu reden haben. Wer weiß, vielleicht wirkt sich das
Haareschneiden diesmal nachhaltig auf die künftige Wohnsituation aus.