12.07.16

Britische Annäherung

Im Sommer 1986 kam Claire Smith aus Manchester zu mir ins Waldviertel. Der Kulturschock war ihr damals nur dezent ins Gesicht geschrieben. Von einer Stadt, die auch so manche Pop-Gruppe hervorgebracht hatte in ein 250-Menschen-Dorf ist nicht ganz ohne. Hier wurde nicht in jedem Wirtshaus am Abend die Gitarre gezückt und Musik gemacht. Frauen und Mädchen waren generell eher selten gesehene Gäste beim Dorfwirt. Außer nach dem Fußballmatch der heimischen Mannschaft. Da saßen dann alle: Männer und Frauen, Burschen und Mädchen in unmittelbarer Nähe eines Zapfhahns und auch am Stammtisch. Für die Kleinen gab es Bensdorp-Schokoriegel in blau und grün oder Manner-Schnitten zum Obi.

Zurück zu Claire: Sie verließ meine Ex-Heimat mit ein paar neuen Geschmacksrichtungen am Gaumen: Grillhendl und Bratlfettn etwa. Und als Deutsch-Studierende auch mit ein paar nicht in der Schule gelernten Wörtern auf der Zunge wie Leitn für Abhang oder heigna für heuen. Und bekam zu spüren, dass der eiserne Vorhang gefühlt unmittelbar neben unserem Dorf begann: Der Truppenübungsplatz war eine „natürliche“ Barriere in den Norden.

Möglich gemacht hatte unsere zwei Jahre dauernde Bekanntschaft ein Schüleraustauschprogramm. Ich war meinen Eltern damals lange genug in den Ohren gelegen, dass ich nach England musste, sonst wäre es um mein künftiges Wohlergehen geschehen. Denn ich wollte unbedingt anwenden, was ich in der Schule gelernt hatte. Hing ich doch von der ersten Englisch-Stunde an meiner Professorin im Gymnasium an den Lippen. Sie verwendete nie eine deutsche Silbe im Unterricht und lehrte den britischen Akzent. Im Waldviertel selbst bot sich wenig Gelegenheit, mit native speakers zu plaudern. Also blieb mir nur der Weg über den Kanal.

Was ich als erstes lernte, als ich ein Jahr später britischen Boden betrat: Die englische Küche ist durchaus genießbar, wenn die Gastfamilie einen Faible für Italien hat. Es gab oft Pasta und niemals fish&chips zum Abendessen. Und am Nachmittag gegen fünf trank ich mit Claires Dad einen Instant-Kaffee und aß dazu Baguette mit Tomate und Käse – nix mit Earl Grey und Gurkensandwich.

Meine Gastfamilie wohnte in einem Vorort von Manchester namens Cheadle Hulme. Dort ging ich das erste Mal zu einem Mc Donalds und ließ den Vanilla-Shake nach ein paar Schlucken stehen. Er war mir, die ich noch nie Fastfood gegessen hatte, viel zu süß. Mit ihrer Oma trafen wir uns einmal im Pub zum Mittagessen. Für einen Abendbesuch hatte ich noch nicht die notwendigen Jahre. Ale und Lager waren sowieso nicht meines. Und Cider kannte ich noch nicht einmal vom Hörensagen. Ich sah meine ersten Mumien, als wir durch Manchesters Museen streiften und kam auf dem Rücksitz der Familienkutsche bis nach Wales. Ich lernte außerdem, dass es Mandschasta hieß und nicht Mendschesta. Am Ende der zwei Wochen träumte ich sogar schon auf englisch.

Worüber ich mich wunderte: Über Menschen in Shorts, Röcken und T-Shirts ohne Socken und Strümpfe bei Temperaturen unter 20 Grad. Darüber, dass alle – fast alle – schlank waren; egal ob alt oder jung. Wenn ich da an die BesucherInnen von den Cafe-Konditoreien in Österreich dachte... kein Vergleich.

Seither war ich noch fünf Mal auf der britischen Insel. Drei Mal besuchte davon meine Schwester, die England als neue Heimat gewählt hat. Morgen Mittwoch startet der siebte Ausflug – mit dem Auto quer durch Europa. 1987 war Österreich noch weit davon entfernt, Mitglied der EU zu werden. Heute steht Großbritannien vor dem Austritt. Das obligatorische Geldwechseln blieb über die Jahre gleich.


Ob mein Sohn einmal uneingeschränkt durch Europa wird reisen können, wenn er – so wie ich damals – 16,17 sein wird? Schwer zu sagen. Derzeit stehen die Zeichen auf mehr Unfreiheit als ich als „Kind des Kalten Krieges“ je zu befürchten wagte.