10.12.16

Hirschbach

Im Waldviertel sagen sich schon lange nicht mehr Fuchs und Hase gute Nacht. Längst haben Schreibende und Malende diesen Flecken Erde für sich erobert, als das optimale Refugium erkannt, um ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen oder die Kräfte wieder neu aufzutanken.

Einen Schriftsteller hat es in mein Heimatdorf verschlagen. Als ich noch dort lebte, gab es nur wenige Wochenend-WienerInnen, die pünktlich am Freitag Abend ihr Auto vor dem gekauften Häuschen parkten und sich am Sonntag Abend wieder voll bepackt auf den Weg zurück nach Wien machten. Einer von ihnen kam vom Rennbahnweg. Er saß oft in einem der Wirtshäuser und sein Ur-Wienerisch war für meine Waldviertler Ohren gewöhnungsbedürftig.
Ein anderer galt als verschrobener Einzelgänger und hatte einen Doberman im Garten, vor dem ich mich fürchtete, auch wenn er immer hinter dem Zaun war. Im Dorf wurde gemunkelt, dass er manchmal drüber sprang. Also besser Augen zu und vorbeigehen. Es gab nie einen erwähnenswerten Zwischenfall. Ihm folgte ein weiterer Doberman nach, der als nur halb so wild galt. Auch wurde ich älter und weniger furchtsam gegenüber von „scharfen Hunden“.

Wieder andere Wahl-WaldviertlerInnen haben sich in der Pension fix draußen niedergelassen und sind mittlerweile im Dorfleben gut verankert. Um Teil des lokalen „Gerichts“ zu werden, braucht es am Land die eine oder andere Zutat: Der Mann wird Feuerwehrmann – was jedoch eher den Einheimischen vorbehalten bleibt denn den „Zuagrastn“ zugestanden wird. Oder man geht zum Sportverein, wo die Durchlässigkeit für „Legionäre“ schon größer ist. Die dritte Variante – man engagiert sich in der Kirche. Dort wird jede und jeder bereitwillig aufgenommen, zumal die Schäfchen auch am Land verloren gehen.

Sogar der nach der Messe obligatorische Gang zum Frühschoppen wurde aufgelockert. Früher war der Gang zum Wirten den Männern vorbehalten, um in Ruhe ein Seidl oder Krügel zu trinken, bevor sie heim zu Frau und Kindern zum Mittagessen gingen. Heute gehen die Frauen mit und trinken eine Melange anstelle des Bieres, die Männer ebenso. Der Kaffee ist meist in einer Santora-Tasse, die noch aus den 1980er-Jahren stammt und ein fast zeitloses Design ihr eigen nennt, hat sie doch den Jahrtausendwechsel schadlos überstanden.

Als ich letzte Woche mit Mann und Kind von einer spontanen Hausbesichtigung in Hirschbach zurückkam, versuchte ich mich als zukünftige Hausbesitzerin und oben genannte Wochenend-Wienerin  in einer Gemeinde zu sehen, die meiner eigenen nicht unähnlich war. Okay, Hirschbach hat einen roten Bürgermeister und ein Schloss. Das gab und gibt es bei uns beides nicht. Alles andere ist fast ident: Greißler, Feuerwehr, Sportplatz für Fußball und Tennis, Dorferneuerungsverein etc.

Wir stiefelten letzten Samstag bei Eiseskälte durch drei Häuser und beäugten die überaus kostengünstigen potenziellen zukünftigen Bleiben. Zwei davon lagen am Schlossplatz gleich neben der Kirche und hatten mehrere hundert Jahre Bestehen in ihren Mauern. Die dazugehörigen Gärten waren klein aber fein und in einem gab es sogar einen Apfel- und einen Birnbaum. Das wäre ein fast unschlagbares Kaufargument gewesen.

Nach einer Woche Bedenkzeit mehrten sich die ersten Zweifel: Will ich in eine Idylle zurückkehren, die ich lediglich in nostalgischen Gedanken an die Vergangenheit als eine solche definiert hatte? Und vor allem: Sah ich mich wirklich als Pendlerin zwischen Wien und Hirschbach? Nicht Fisch, nicht Fleisch für mehrere Jahre – das Wochenendpendeln hatte ich mich schon in meinen Zwanzigern eher unrund gemacht.

Und ist Hirschbach im Waldviertel der richtige Ort, um den eigenen Sohn möglichst liberal aufwachsen zu lassen? Denn geplant hatten wir, nach vier Jahren ganz draußen zu bleiben. Da hätte er die Volksschule in Wien hinter sich. Als „Bobo-Mama“ habe ich ihn für eine Montessori-Klasse in einer Ganztagesschule in unserem Bezirk angemeldet. Etwas Vergleichbares im Waldviertel zu finden: Ich wüsste nicht, wo ich zu suchen anfangen sollte? Will ich ihm die Chance auf die Offenheit „vermöbeln“, indem ich ihn in eine Enge zwinge, der ich einst unbedingt entfliehen wollte!?

Vielleicht wäre es auch umgekehrt gekommen: Er wäre das glücklichste Kind auf diesem Planeten geworden und hätte sich nur ungern an seine Kindergartenzeit in Wien erinnert. Wir werden es wohl nie erfahren. Denn die Entscheidung fiel gestern: gegen Hirschbach und für das Weitersuchen nach einem größeren Wohnraum in Wien und Umgebung – in der Hoffnung, dass russische Oligarchen und ihre Ehefrauen bzw. andere Neureiche nicht die letzten noch verbleibenden leistbaren Orte unbezahlbar machen.