09.10.15

Gastfreundschaft


Das Haus meiner Eltern war nie versperrt, als wir Kinder waren. Durch das Tor konnte jeder herein. Und wenn er sich auskannte, fand er auf dem Weg durch die für drei bis vier Autos Platz habende längliche Garage auch die Tür zu unserer Wohnung. Die stand ebenso offen. Viele beließen es in jener Zeit, unten zwischen der zum Elektrounternehmen gehörigen Werkstatt und unserer Wohnungstür stehenzubleiben und „Hallo, Frau Ziegelwanger“, nach meiner Mutter zu rufen. Das waren dann meist Menschen aus dem Dorf, die dringend etwas für Hof und / oder Heim brauchten: Sicherungen, Steckdosen, Kabel, Drähte oder ähnliche wichtige Utensilien für den Heimwerker. Jene, die zu Gast kamen, kletterten die drei Stiegen-Absätze nach oben und marschierten schnurstracks in Richtung Küche.

Ich wuchs in diesem offenen Haus auf. Meine Eltern feierten Geburtstage und andere (wilde) Partys, von denen heute noch Fotos zeugen – vor orange-braun-beigen Tapeten im Wohnzimmer; auf knallgelben Fauteuils, in die Luft eingepumpt werden musste wie in ein Schlauchboot. Natürlich gab es immer ausreichend zu essen. Und so standen wir bereits als Kinder in der Küche und machten Spießchen mit Käse, Weintrauben, Wurst und anderen Leckereien, die wir auf einen großen Krautkopf steckten. 1970er-Jahre eben. Für uns gab es – so wir eine Weile dabei bleiben durften – das sonst nie in unserer Speisekammer zu findende Fanta oder Keli Himbeer zu trinken. Was die Erwachsenen tranken, weiß ich nicht mehr.

Es dauerte in etwa bis zu meinem zehnten oder elften Geburtstag, da ich selbst die erste Silvesterparty organisierte. Ganz ohne Eltern; die feierten ein paar Häuser weiter mit ihren Freunden. Mein erstes Buffet war bunt: neben den von Weihnachten übrig gebliebenen Schoko-Nuss-Schnitten türmten sich belegte Brötchen mit einem Mayonnaise-Ketchup-Senf-Gemisch, gefüllte Eier und die obligatorischen Rollmöpse für Mitternacht. Wir drehten die Stereoanlage im Wohnzimmer bis an die Dezibelgrenze auf und tanzten zu Duran Durans „Wild Boys“ bei rot-blau-grüner Discobeleuchtung.

Wir wurden älter – und die (Silvester) Partys etwas wilder. Ich erinnere mich noch an den Satz: „Lieber, ihr feiert bei uns zu Hause, als ihr fahrt in dieser Nacht irgendwo mit dem Auto herum.“ Und so kam es, dass unsere Gäste immer wieder mal bis zum Neujahrstag blieben und dann bei Kaffee und Mohnstrudel über die vergangene Nacht plauderten, sofern sie nicht von einer besorgten Mutter nach Hause geholt wurden.

Als ich meinen Lebensmittelpunkt nach Wien verlagerte, änderte dies nichts an den offenen Waldviertler Türen für meine Freundinnen. Unter der Mansarde, wo ich immer noch residierte, wenn ich daheim bei meinen Eltern war, gab es stets genug Platz für mindestens drei oder vier zusätzliche Schläferinnen. Und auch der Kühlschrank schien irgendwo eine „Zauberlade“ zu haben – denn er blieb stets gut gefüllt (danke!). Für mich war das immer selbstverständlich. Und ich reagierte mit Verwunderung, dass es anderswo nicht so offen gehandhabt wurde wie bei uns daheim.

Ich erinnere mich auch noch an den Herbst 1994. Da feierten meine Eltern ihre silberne Hochzeit. Zur Party kamen groß und klein und jung und alt. Und als die Älteren damals den Garten und den Zubau hinter dem Garten verließen, feierten wir Jungen mit unseren Freunden noch ein paar Stunden weiter. Natürlich gab es den obligatorischen Tequila Sunrise im 20 Liter fassenden Plastik-Bottich. Und einen, der es mit dem Auto nicht mehr in den drei Kilometer entfernten Nachbarort schaffte, sondern der bei uns übernachtete; am nächsten Morgen jedoch aufs Frühstück dankend verzichtete.

Geht das auch in Wien? Nur bedingt. Meist kündigen sich Gäste an, als dass sie plötzlich vor der Tür stehen. Nicht so am Mittwoch Abend dieser Woche: Kurz vor sechs läutete es. Brandon, das Au-Pair eines Kindergartenfreundes von Colin, stand vor der Tür, um von uns geliehene DVDs retour zu bringen, bevor er wieder nach New York zurückflog. Das nächste Bimmeln war unser Nachbar, der uns zwei Sackerl mit Sachen von ihrem für unseren Sohn vorbeibrachte. Brandon blieb dann zum Abendessen und sagte, dass er noch nie irgendwo so herzlich aufgenommen und bewirtet worden war wie bei uns; nicht nur an diesem Abend. Und er nahm sich das für sein weiteres Leben vor: ein guter Gastgeber zu sein. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es sich nicht im geringsten angekündigt, dass wir auch nur irgendeinen Eindruck bei ihm hinterlassen hätten. Scheinbar muss der Spruch: „Die Wiener werden erst beim Abschied herzlich.“ neu überdacht werden.

Dass an jenem Abend etwa eine Stunde später meine Eltern überraschend vor der Tür standen und läuteten – auch damit hatte niemand gerechnet. Da ich allerdings auf einem Netzwerktreffen war und Erwin das Klingeln nicht gehört hatte, gingen sie wieder, ohne Einlass gefunden zu haben. Sie ließen jedoch ein Sackerl für ihren Enkel an der Tür hängen. Meine Eltern haben ihr Waldviertler Vertrauen in die Menschen nach Wien mitgebracht und es wurde nicht enttäuscht. Stunden später hingen Sackerl und Inhalt noch an der Türschnalle, als ich vor Mitternacht nach Hause kam.

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