28.08.15

Wien ist ein Dorf


Als ich vom Waldviertel nach Wien kam, da lagen Städte wie New York, Washington und Boston dazwischen, die ich als Au Pair betreten und teils bewohnt hatte. Die Wiener Häuser erschienen mir nicht gar so mächtig – wenn auch prächtig. Vor allem jene am Ring. Und ich dachte mir: Wie kannst du da wohl Menschen kennenlernen?

Etwa fünf Jahre später entpuppte sich der erste Anschein von Dorf-Charakter in der Großstadt. Als meine Schwester für zwei Tage auf Besuch war, traf ich einen Arbeitskollegen in der Wollzeile, als wir bei der Buchhandlung Morawa vorbeiflanierten. Und er war nicht der einzige an jenem Tag, den wir trafen. Ich war beeindruckt. Meine Schwester auch. Denn wir waren es zwar gewohnt, durch unseren Heimatort zu gehen und jeden zu grüßen, der uns über den Weg lief. „S’ött“ hieß es dann. Das, was von „Grüß Gott“ übrig blieb. - Aber in Wien...?

Doch dass sich, was als Zufallsbegegnungen begann, noch steigern ließe, hätte ich mir damals nicht gedacht. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als ich Diplomarbeit schrieb. Vorzugsweise nahm ich meine zu korrigierenden Seiten oder die zu lesende Literatur in die Cafe Bar Urania mit. „Kommst du eigentlich immer nur zum Arbeiten?“ fragte mich der Kellner, der mir den Cafe Latte (damals ohne Koffein) fast schon ungefragt an meinen Platz mit Aussicht zum Donaukanal und Uniqa-Gebäude stellte. Ich lernte Sandor und seine Geschichte kennen. Dass sein Lebensgefährte einen Husky hatte und auch warum er eines Tages den Dienst in meinem Lieblings-Cafe quittierte. Ich traf ihn noch einige Male (mit meinem Kind) im Motto am Fluss. Jetzt auch dort nicht mehr; meine Cafe-Zeiten sind rarer geworden.

Dafür lebe ich seit bald zehn Jahren in einem Haus, das in sich fast wie ein Mini-Dorf ist. Natürlich sind die Kinder ein verbindendes Glied in der Kette der Umstände, die vorerst Fremde ein wenig zusammenschweißen. Mein Sohn spielt mit den Zwillingen von Elisabeth. Und naturgemäß (?) sind es auch im 21. Jahrhundert die Frauen, die die meiste Zeit mit den Kindern verbringen, während die Männer arbeiten... Obwohl es auch in Österreich nicht mehr ohne Frauenerwerbsarbeit geht. (Aber das ist eine andere Geschichte.) Mittlerweile ist auch Tina mit ihrer Tochter dabei. Und zur Holzbank haben sich viele Stühle und eine Hollywoodschaukel dazugesellt. Eine im Hof verfügbare Kaffeemaschine existiert zumindest in unseren Köpfen.

Ich kenne die Geschichte des Hauses und vieler seiner BewohnerInnen, die teils auch seine BesitzerInnen sind. Und ich kenne auch jene Frau, die die Chronologie akribisch zusammengesucht und –geschrieben hat, obwohl sie nicht zur Eigentümer-Familie gehört. Weiß, warum sich eine Büste von Kaiser Franz Josef in der Vorhalle der Stiege 4 thront und dass das Original im Postgebäude im 1. Bezirk steht.

Frühling, Sommer und Frühherbst ist „Hofzeit“. Heuer etwas beeinträchtigt durch die Baustelle auf unserer Stiege. An manchen Sommerabenden kann man von unserem Fenster aus dem leisen Flüstern im Hof lauschen. Wenn der eine oder andere von der (heurigen Rekord)Hitze in der Wohnung etwas Abkühlung suchte und sich entweder in die Hollywoodschaukel oder auf die Holzbank setzte und ein kühles Bier oder eine Limo trank.

Und das „Dorf“ hört nicht auf, wenn ich das Haustor hinter mir schließe. Sei es die Besitzerin vom Cafe nebenan oder jene der Boutique in unserem Haus, eine Verkäuferin in der dm-Filiale oder einer der wenigen männlichen Verkäufer im Biosupermarkt vorne am Rochusmarkt. Kein Weg in den Kindergarten läuft ohne mindestens fünf Mal „Guten Morgen“ gesagt zu haben. Klar, von manchen kenne ich den Namen nicht. Aber spielt das eine Rolle? Die beiden Frauen unserer Anker-Filiale kennen meinen Sohn und geben ihm ungefragt seine Topfenbällchen mit den Worten: „Tschüss Colin, einen schönen Tag im Kindergarten.“

Als ich vor drei Tagen beim Magistratischen Bezirksamt war, um meinen Waldviertler Nebenwohnsitz abzumelden, da sagte ein Kind zu seiner Mama: „Schau, die Mama vom Colin.“ – „Hallo.“ Und ich dachte mir: „Ja, genau. Die Mama von Ferdinand und Leopold.“ Bei über hundert Kindern im Kindergarten bin ich froh, alle Eltern in Colins Gruppe beim Namen zu kennen. Und bei vielen bleibt es einfach ein: Ja, kenn ich – vom Sehen.

Es ist eine nicht zu leugnende Tatsache, dass ich im dritten Bezirk (nicht erst in diesem Haus) Wurzeln geschlagen habe. Begonnen hat alles 1991 in der Hohlweggasse über die Löwengasse und die Adamsgasse in die Landstraßer Hauptstraße. Die Wohn-Ausflüge nach Simmering, Langenzersdorf und in den Alsergrund zählen nicht. Und nun soll ich weg von hier? Eine größere Wohnung im Dritten ist für „Normalverdienende“ schier unleistbar geworden.

Und so spiele ich mit dem Gedanken zurück aufs Land zu gehen. Denn zum Preis einer Eigentumswohnung in meinem Lieblingsbezirk kriege ich im Waldviertel fast schon ein kleines Dorf...

2 Kommentare:

  1. Ja das mit dem Stadt-Land-Gefälle hat was ... und man/frau darf schon ehrlich hinschauen und sich immer wieder mal fragen, was man im Leben an Lebensqualität haben will und wo in diesem wunderschönen Österreich das zu finden ist ... ich zumindest stelle mir diese Frage gerade und ich werde - meinem Sohn zuliebe - noch mindestens 1 Jahr auch in Wien bleiben ... und wer weiß, in welches Dorf es mich dann hinverschlägt ;-)

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  2. Und auch die Antwort auf die Frage nach der Lebensqualität ändert sich mit den Jahren. Wollte ich früher unbedingt englischsprachiges Kino & Co genießen ist mir heute mehr nach Ruhe und grünen Bäumen, Wiesen und Weite :).

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