12.10.14

Sichere Kindheit


Mein Sohn fährt Laufrad. Seit mehr als einem Jahr nimmt er die Füße als Antriebsmittel um sie dann anzuheben und auf den Wiener Gehsteigen dahinzugleiten. Natürlich trägt er einen Sturzhelm. Dasselbe tue ich seit etwa zwölf Jahren. „Mir wäre wohler, wenn du beim Radfahren einen Helm trägst“, sagte mein damaliger Lebensgefährte und heutiger Ehemann. Denn ich absolvierte meine Wege Anfang der 2000er-Jahre eher auf dem Rad denn in den Öffis. Also kaufte ich mir einen roten Alpina. Der wich einem silbernen mit hellblauen Blümchen. Ohne Helm auf dem Kopf fühle ich mich mittlerweile als stiege ich nackt aufs Rad.

Generell zeichnet die Kinder von heute eines aus: Sie sind rund um die Uhr beschützt. Der Helm beim Radfahren, die Eltern neben den Geräten am Spielplatz. Wenn sie dann älter sind, dient das Mobiltelefon als Kontrollorgan über das Tun und Sein der Kids.

Wenn ich mich hingegen an meine eigene Kindheit erinnere: Wir kamen nach der Schule heim, aßen ein Mittagessen, machten die Aufgaben – und weg waren wir. Nach Hause zurück kamen wir pünktlich zum Abendessen. Zumindest in 99,9 % der Fälle. In der Zwischenzeit waren wir entweder beim Nachbarn und fuhren mit aufs Feld, spielten Tischtennis in der Maschinenhalle, trieben uns beim Bach herum und bauten Staumauern, planten Bandenspiel à la Kalle Blomquist – und was uns sonst noch so einfiel an einem langen Nachmittag.

Unsere Mutter wusste nie im Detail, wo wir gerade waren. Sie hatte kein Handy, um sich nach unserem Verbleib oder dem aktuellen Wohlergehen zu erkundigen. Wenn es Streit gab, waren wir stets dazu angehalten diesen selbst zu lösen. Was uns auch immer gelang, irgendwie. Und siehe da: Wir führen ein ganz normales Erwachsenenleben. Ja, wir haben uns mal ein Bein gebrochen oder sind mit dem Fahrrad gestürzt. Aber wir haben unsere Kindheit ohne Helm und Schutzanzug überstanden.

Mir tut es ein bisschen leid, dass unser Kleiner sich nicht einfach im Alter von unter 12 Jahren auf sein Rad wird schwingen können und drauf losfahren. Wir durften das. Zumindest auf dem Gehsteig vom Haus meiner Eltern die ganze Häuserzeile entlang bis zum Endl (und wieder retour). Der Hof dieses Bauernhofs war unsere Umkehrschleife. Was mir damals an einem Sonntag einen kurzen Aufenthalt in der Unfallabteilung des Horner Krankenhauses bescherte, weil sich die Schraubennabe des Rades meiner Schwester beim Zusammenstoß in meinen Oberschenkel gebohrt hatte.

Meine Mutter beteuert, dass sie sich nie Sorgen um uns gemacht hat. Was mir heute klar ist: Sie hat uns vertraut. Vertraut, dass wir keinen Blödsinn machen und uns nicht selbst in Gefahr bringen. Ja, wir sind in den TÜPL (Truppenübungsplatz) geradelt und haben Patronen gesammelt. Ja, wir haben gewusst, dass wir dort auf Blindgänger achten mussten und dass die größte Gefahr von nicht mehr offensichtlichen Hausbrunnen in den zerschossenen Dörfern ausgeht. Und tatsächlich sind wir nie in den Resten der Häuserzeilen von Loibenreith, Mestreichs oder Äpfel-Gschwendt herumgekrabbelt.

Mein Sohn wird wahrscheinlich für lange Zeit nur mit einem oder mehreren Erwachsenen an seiner Seite auf markierten (Rad)Wegen herumfahren. Ob er etwas vermissen wird? Wahrscheinlich nicht. Denn er kennt diese „Freiheit“ nicht, wie ich sie noch erleben durfte.

Was ich mich frage: Wie alt muss Colin werden/sein, um ihm zu vertrauen? Oder ist das keine Frage seines Alters sondern meiner Einstellung? Vorerst belasse ich es mal bei einem Fahrradhelm. Und wenn irgendwann einmal das obligatorische Mobiltelefon in seinen Händen ist, kann ich es mir sicher verkneifen ihn im Stundentakt anzurufen. Da vertraue ich mir. 

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