Das Haus
meiner Eltern ist zweigeteilt. Wenn ich mit Mann und Kind zu Besuch bin, können
wir drei uns auf beide „Trakte“ verteilen. Unser Sohn schläft dann im in den
1970er-Jahren neu dazu gebauten und wir beide wandern durch eine Schiebetür in
den alten Teil des Hauses, den mein Opa und meine Oma nach dem Krieg gekauft
haben. Aus dem typischen kleinen ebenerdigen Waldviertler Giebeldachhäuschen
wurde ein einstöckiges Gebäude. Unser
Sohn kann die Nähe zu seinen Großeltern ungestört genießen. Mein Mann und ich
nächtigen im Schlafzimmer meiner Großeltern.
Neben dem
Fenster hängt das Hochzeitsbild der beiden. Sie waren damals ca. 25 und 30
Jahre jung. Das Bild ist in Farbe; nachträglich coloriert, so wie damals viele
Bilder. Denn eigentlich gab es meist nur schwarz-weiß-Fotografie. Das
Hochzeitshemd meines Opas ist aus einem Leintuch geschneidert. Festliche
Kleidung war in den Nachkriegsjahren Mangelware. Wo meine Oma ihr Kleid
herhatte, weiß ich nicht. „Ich habe alles vergessen“, sagte sie mir auf viele
meiner Fragen vor einem Jahr. Auch wie, wo und wann sie Opa kennengelernt
hatte. Darüber lassen sich nur Vermutungen anstellen. Denn auch mein Papa, der
Älteste von vier Kindern, weiß nur teilweise Bescheid. Doch weiß er Geschichten
zu erzählen wie etwa jene, dass mein Opa eine Herdplatte aus der Küche
abmontiert hatte, weil ein Kunde gerade eine brauchte und er keine im Lager
hatte. Auto besaß er lange Zeit keines. Er fuhr mit dem Motorrad zu seinen
Kunden. Kabelrollen geschultert und den Werkzeugkoffer am Sozius verstaut. Das
war der Beginn seines Unternehmerdaseins als Elektriker.
Irgendwann
expandierten sie auf Drängen meiner Oma und mieteten einen Standort in Horn, in
der Bahnstraße 30. Einmal pro Woche, wenn meine Mutter auf der Post arbeitete,
fuhr ich mit. Ich war damals etwa vier. Ich erinnere mich an mein
Kakaoflascherl, das stets mit dabei war. An das obligatorische Mittagessen im
Gasthaus Blie, das in meinem Fall stets aus Fritattensuppe und zwei
Marmelade-Palatschinken bestanden hatte. Auch habe ich die Berge von Papier auf
dem Schreibtisch und die Rechenmaschinen, die noch mehr Papier produzierten,
noch immer vor Augen. Die Holzfurnier der Schreibtische verschwand gänzlich
unter den Zahlenrollen, Ordnern, Kassabüchern und Ähnlichem. Ob ich damals
schon beschlossen habe: „Nein, ich will nicht im Büro arbeiten und meine Zeit
mit Zahlen verbringen!“? Ich glaube nicht. Denn mit Geldverdienen brachte ich
dieses Tun damals sicher nicht in Verbindung; zumal ich an den warmen Tagen
hinten in den Garten raus konnte. Dort „lebte“ eine für mich damals uralte Frau
namens Baumhauer, mit der ich viele Nachmittage verbrachte.
Meine Oma
konnte sich bis 90 noch ganz gut selbst versorgen; bis die Zwischenfälle mit
dem Rauchmelder aufgrund von vergessenem Essen auf der Herdplatte zu häufig
wurden. Der gebrochene Oberschenkelhals in einem langen Winter war dann der
letzte Anstoß, um nach externer Hilfe für sie zu suchen. Da übersiedelte sie zum
Schlafen in die Bauernstube in ein Spezialbett und hat seither eine
24h-Heimhilfe.
Auch diese
Ostern schliefen wir im Schlafzimmer mit besagtem Bild neben dem Fenster. In
der letzten Nacht schreckte ich aus einem Traum hoch. Die Tür stand offen,
Licht schien vom Gang herein. Meine Oma stand beim Fenster, eine Hand auf dem
Heizkörper und sagte: „Do stimmt wos ned.“ Ja, natürlich nicht. Ein fremder
Mann lag in Opas Bett.
In jener
Nacht versuchte ich meine ca. 1,50 große Oma wieder zurück in ihr Bett zu
bringen. Doch sie dirigierte mich mit einer aus dem Irgendwo kommenden Kraft in
die Küche meiner Eltern mit der sich wiederholenden Aussage: „Do stimmt wos
ned.“ Auf die Frage, was sie denn suche, sagte sie: „Wo ist denn das Büro?“ Ein solches gab es meines Wissens
hier nie. In ihren Augen konnte ich sehen, dass sie nicht wusste, wer sie war
und wo sie sich befand. Mit viel gutem Zureden brachte ich sie zurück in die
Bauernstube. Ich spürte die Erleichterung in ihrem Körper. In diesem Zimmer
fand sie sich wieder zurecht. Von unseren Stimmen war auch Joana wach geworden.
Die Pflegerin legte meine Oma wieder ins Bett. Ich hörte die beiden noch eine
ganze Weile diskutieren, denn meine Oma wollte partout wieder aufstehen. Vor 25
Jahren war sie noch ganz resolute Geschäftsfrau. Diese Entschlossenheit hat sie
auch heute noch.
Das Auswirkungen
des Alters betreffen uns (fast) alle früher oder später. Tag für Tag kommen wir
ihm näher. Zuerst lässt die Sehkraft nach. Dann fragt man beim Plaudern des
öfteren nach, weil die Worte nicht wie oft gehörte klingen. Das Stiegensteigen
kann mühsam werden. Und generell schwindet die Kraft der Muskeln. Doch unser
Gehirn gaukelt uns lange noch vor, am Zenit unserer Leistungsfähigkeit zu sein.
Ab wann werde ich Dinge tun oder sagen, über die sich
mein Umfeld nur noch wundert? Wenn es soweit ist, werde ich es
höchstwahrscheinlich nicht mitbekommen.
Mit "Geisterstunde" hatte ich zunächst eine andere Erwartung ... die Beschreibung/en deiner Oma betreffen ja auch meine Eltern und stimmen mich nachdenklich und traurig zugleich - doch so ist der Lauf der Dinge eben! Danke für diese wirklich sehr persönliche Rückschau. Ich bin zu Tränen gerüht! Manuela
AntwortenLöschenMich stimmen die (gefühlt) dahineilenden Lebensjahre ebenso nachdenklich; und darum habe ich mir das auch von der Seele geschrieben.
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