09.06.17

Birmingham – wider den Schleier des Vergessens

Birmingham stand trotz meiner Allzeit-Liebe zu England nicht auf der „100 places to see before you die“-Liste. Ich hatte eine ähnliche Erwartungshaltung, als hätte ich das Ruhrgebiet als Destination gewählt, als ich im Sommer 1999 nach einem Besuch bei meiner Schwester in Harrogate (Yorkshire) mit meiner Freundin Edith* wieder weiter in den Süden fuhr. Vor dem Rückflug nach Wien wollten wir einen Zwischenstopp bei Mona* machen; eine von Ediths Freundinnen aus ihren Boy-George-Fan-Tagen, die nach England ausgewandert war.

Das Beeindruckendste an der Stadt für den Chocoholic in mir war der Besuch der Cadbury Schokoladenfabrik. Sie befand sich außerhalb der Stadt und somit artete der geplante Kurzbesuch in einen Tagesausflug aus. Ich trank dort meine erste mit Chili versetzte Original-Azteken-Schokolade und bekam sogar mehrere der heißen Kostproben, da der Besucheransturm ein kleiner war. Ich lernte auch viel über das Sozialprogramm von John Cadbury. Er ließ zuerst Häuser und später eine ganze Stadt (Bournville) für seine Mitarbeiter bauen und unterstützte sie auch in der Gesundheitsvorsorge. Das war Ende des 19. Jahrhunderts.
Und die sightseeing-begeisterte Edith nutzte jeden Winkel der Anlage zum Besichtigen und deckte sich neben vielen Informationen vor allem mit Schokolade und Keksen ein. Mich erinnert heute noch eine Blechdose mit Kuh auf unseren Besuch dort. Statt der Schokolade haben meine Armbänder und andere Schmuckstücke dort einen fixen Platz gefunden.

Ich kannte Mona nicht wirklich. Wusste nur, dass sie zu ihrem pakistanischen Freund gezogen war und mit ihm in einem Haus in dem von mehrheitlich durch Pakistani bevölkerten Stadtteil von Birmingham lebte. Und sie hatte sich bereiterklärt, dass wir bei ihr übernachten konnten. Mona holte uns vom Bahnhof ab. Ich hätte sie mit dem Tuch auf dem Kopf fast gar nicht mehr erkannt, das sie scheinbar als Schutz vor dem leichten Regen trug. Mit dem Bus fuhren wir in die Nähe ihres Wohnhauses und legten die letzten Meter zu Fuß zurück. Edith und ich hatte ein eigenes Zimmer für die drei Nächte, die wir bleiben wollten, bevor unser Flugzeug nach Wien retour abhob.

An jenem ersten Abend kochte Mona ein opulentes Abendessen für uns. Der Tisch bog sich unter der Vielzahl der Teller mit den verschiedensten Gerichten zum Kosten. Ich aß zum ersten Mal Okraschoten. Und ich lernte, wie man eine Mango wirklich isst. Voraussetzung für den unbeschreiblichen Genuss, der Käuferinnen österreichischer Supermärkte verwehrt bleibt: Sie muss sehr reif sein. Dann drückt man sie und an der spitzen Stelle tritt das weiche Fruchtfleisch heraus. So lässt sie sich gut aussaugen. Süß und ganz nach Dragee-Keksi-Art: Wenn ich nur aufhören könnt. Ich denke, dass ich drei oder vier oder waren es fünf hintereinander gegessen habe. Sie waren ja auch klein und insofern ein optimales Dessert für eine, die Obst zu ihrer Lieblingssüßigkeit erkoren hat.

Als wir unser Festmahl verschlungen hatten, trug ich unser Geschirr in die Küche. Ich drehte das Wasser bei der Abwasch auf und wollte das benutzte Geschirr reinigen, als mich Monas Lebensgefährte sanft aber bestimmt von dort wegschob und mir erklärte, dass die Arbeit in der Küche Monas Aufgabe sei. Ich verließ die den Ort unter Protest. Monas Blick war eindeutig: Lass es sein. – Okay, um des Hausfriedens willen, schwieg ich. Mit Edith beplauderte ich diesen Vorfall, sobald wir uns ins Zimmer zum Schlafen zurückgezogen hatten.

Davor hatten wir unsere erste Begegnung mit dem Badezimmer gemacht. Zwar erinnere ich mich nur noch dunkel, wie der im 1. Stock gelegene Nassraum ausgesehen hatte. Sehr gut in Erinnerung ist mir das nicht vorhandene fließende Wasser in der Badewanne des uns zugeteilten Raums für die Abendtoilette. In der Wanne stand ein Kübel, der als Dusche diente. Ich fand mich mit der Katzenwäsche ab. Ins Schwitzen kam ich in den Tagen dort ohnehin nicht – zu kühl, zu feucht – britisches Wetter eben. Aber gegen eine heiße Dusche hätte ich nichts einzuwenden gehabt, zumal es im Haus sehr kühl war und meine Bekleidung eine sommerliche.

Mona lernte Urdu und sagte uns, dass sie das Kopftuch außerhalb des Hauses freiwillig trug. Das war eine der wenigen Erklärungen, die wir von ihr hörten. Denn uns mit ihr unter sechs Augen zu unterhalten, erwies sich als schwierig bis unmöglich. Untertags arbeiteten Mona und ihr Freund. Am Abend ließ er sie quasi nicht aus den Augen. Auch einen Spaziergang durch Downtown Birmingham, das gerade frisch herausgeputzt und neu gestaltet worden war, machten wir zu viert. Saßen in einem der neu eröffneten Lokale und begnügten uns mit einem antialkoholischen Getränk ohne Eiswürfel.

Ob Monas Gefährte damals regelmäßig gebetet hat? Ich denke schon. Natürlich hat er sich nie vor unseren Augen in Richtung Mekka verneigt. In der Straße, in der die beiden lebten und auch in den umliegenden waren nur pakistanische Familien zu Hause. Auch seine Verwandten wohnten in unmittelbarer Gehdistanz. In der Haupteinkaufsstraße dieses Viertels hörte ich nur selten ein englisches Wort. Moscheen und Geschäfte wechselten einander ab. Edith sagte schon damals, dass sie nicht wissen wollte, was die Imame den Leuten dort erzählten. Ich winkte ab, sie solle nicht immer das gleich Schlechteste annehmen.

Edith und ich flogen nach ein paar Tagen zurück nach Wien. Fast hätte sich unser Aufenthalt unfreiwillig verlängert. Am letzten Tag kehrten wir von einer Shopping-Tour zum Haus zurück und wollten die Tür aufsperren. Das Schloss klemmte. Auch mit der Hilfe eines Nachbarn, der sicher kräftiger war als wir beide, gelang es uns nicht. Ich sah mich schon eine weitere Nacht in diesem für mich ungemütlichen Haus bleiben. Es war weniger der nicht reparierte Wasserhahn im Bad als viel mehr die Stimmung, die in der Luft lag, die mich möglichst rasch das Weite suchen lassen wollte.

Wir riefen Mona in ihrer Arbeit an. Sie eilte zu uns und wir konnten die Tür quasi in letzter Minute doch noch öffnen. Mona habe ich seither nicht mehr gesehen. Gerüchten zufolge soll sie mehrere Kinder haben. Ob es wirklich das Leben ist, das sie sich vorgestellt hatte, als sie Hals über Kopf Wien verließ, um sich aus den Klauen ihrer Herkunftsfamilie zu befreien, bezweifle ich. Sie wollte ihren Träumen nachjagen, England schien ihr das geeignete Pflaster dafür gewesen zu sein...


* Die Namen der Freundinnen sind geändert.

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