05.07.15

Von Bildungsbürgern und Schlaumeiern


Die Hitze der Stadt ist im Sommer brutal,
wenn man fürchterlich matt ist, wird das Leben zur Qual.
Darum strömen die Blassen zu den städtischen Kassen,
denn die Frische, die hat man nur in einem Bad.

In einem der Sommer der 1980er-Jahre, als dieses Lied von Rainhard Fendrich gerade „der Hit“ war, packte mich der Ehrgeiz, es auswändig zu können um mitzugrölen, wenn ich Ö3 hörte. Also schrieb ich mit, als er im Radio sang. Und hoffte, dass nicht der Moderator mittendrin mit seinen Worten unterbrach.

So wuchs ich auf. Mit Ö3 im Radio: Am späten Samstag Nachmittag begann der Countdown der Top 40. Und am Sonntag präsentierte Udo Huber in einem seiner unvergesslichen Overalls die Top 10. Dann kam MTV – und das erste lange Musik-Video: Thriller von Michael Jackson. Der Sender und die dort gespielte Musik prägten meine Kindheit und Jugend. Das weitere Spektrum der Noten, Instrumente und weiterer Ingredienzien erfuhr ich in Wien. Als ich mit Anfang zwanzig meine ersten Frauenfrühstücke in Wien besuchte und regelmäßig bei einer Klassikliebhaberin zu Gast war, deren Katze Beatles hieß, hörte ich erstmals bewusst Vivaldi, Händel und berühmte Komponisten, von denen ich in der Schule zumindest mal den Namen gehört hatte. Die Werke jedoch nicht. Sie versuchte, mich in die feinen Klänge der Klassik einzuführen. Und ihr Bemühen trug tatsächlich Früchte. Ich lernte bei ihr Carmina Burana kennen und lieben.

Im Wohnzimmer meiner Eltern fand ich in den 1970er-Jahren Compilations mit Vicky Leandros, Catharina Valente, Mireille Mathieu und anderen. Neben Nazareth hatten sich auch Bonnie M. ins Plattenregal gereiht.. Doch gibt es diese Sammlung heute – meines Wissens – nicht mehr. Genauso wenig wie den Plattenspieler, den ich schon in sehr jungen Jahren selbst bedienen durfte. Zuerst um Märchen zu hören, dann die Nibelungensage rund um Siegfried, den Drachentöter als Hörspiel. Dass es den Ring der Nibelungen als Oper gibt, lernte ich erst viel später.

Als in der Unterstufe des Gymnasiums ein Professor sich bemüßigt fühlte, uns die „Programmmusik“ näher zu bringen, entdeckte ich auf einmal, dass das Plattenregal meiner Eltern auch ein paar Gustostückerln enthielt: Ravels Bolero inmitten der Schlagersammlung. Aha. Dieser Professor in der vierten Klasse war auch der erste und einzige, der uns nicht wie sein Vorgänger nur deutsche Lieder auswändig lernen ließ – alle abgedruckt im „Komm sing mit“ und replizierfähig in der jeweils nächsten Musikstunde.

Pierre Bourdieu schreibt in „Die feinen Unterschiede“, dass der aktive Umgang mit bildender Kunst oder Musizieren in der Regel außerhalb der Schule erworben wird. Also liegt es nicht an meinem Elternhaus, dass ich an der hohen Kunst so wenig interessiert war bzw. so wenig darüber wusste und teils noch immer nicht weiß. Ich erinnere mich an einen Museumsbesuch Anfang der 2000er-Jahre, als mein Vater mit mir die Bilder von Albin Egger-Lienz betrachtete und ich auf einmal gewahr wurde, dass er über die Techniken und Stilrichtungen der Malerei sehr viel zu erzählen wusste. Ebenso wie mein Mann. Beide haben „nur“ eine Lehre absolviert. Mein Vater hängte noch in jungen Jahren die Meisterprüfung dran. Und mein Mann kann seit zwei Jahren einen BEd hinter seinen Namen stellen. Das sind natürlich zwei Beispiele aus meinem persönlichen Umfeld ohne statistische Relevanz.

Woher kommt also das Interesse bzw. Desinteresse? Mein Mann hat als Kind mit seiner Mutter Opern gehört. Beide Männer (Vater und Ehemann) zeichnen gerne. Also ist es logisch, dass sie sich mit der bildenden Kunst aus freien Stücken beschäftigt haben. – Und ich?

Ich habe immer gern gelesen. Als Kind sehr viel, als Jugendliche ebenso. Zuerst Mädchenbücher: Hanni & Nanni, Gulla, Karin, Trotzkopf und von jeder Serie alle verfügbaren Teile. Eine Zeitlang Science Fiction, dann Stephen King und davor alles rund um die Geheimnisse des Bermuda-Dreiecks, des 8. Kontinents, die ungeklärten Rätsel der Menschheit etc. Die Wahl meiner Bücher richtete sich auch nach dem bei Donauland verfügbaren Angebot. Das spiegelte sich auch im Wohnzimmer meiner Eltern wider: Konsalik und Simmel, Sagan, Holt und andere. Kein Dostojewski, kein Goethe, kein Schiller – auch kein John Irving.

Ich hatte bei der Matura ein Leseliste, die mehr als zehn Werke aus der deutschen Literatur umfasste. Bei der schriftlichen Reifeprüfung entschied ich mich für ein Wirtschaftsthema, was für eine Schülerin der HAK auch naheliegend war. Zum Glück wurde nie überprüft, ob und was ich tatsächlich davon gelesen hatte. Jetzt darf ich es ja sagen: Im Alter von 19 waren es keine drei. Vieles davon werde ich wohl bis zu meinem Lebensende nicht nachgelesen habe. Weil die zeitgenössische Literatur genug spannende Werke bietet.

Und unser Sohn? Wird er einst Opernarien nachträllern wie sein Papa? Oder vor einem Breughel im Kunsthistorischen Museum in Kontemplation versinken? Marcel Proust von Anfang bis zum Ende lesen und der verlorenen Zeit auf die Spur kommen? Derzeit spricht einiges dagegen. Der 4 ½-Jährige baut gerne Lego. Mittlerweile sogar kleine Lego-Technic-Sets ältere Kinder nach Plan. Um den selbst „lesen“ zu können, ist das Erkennen der Ziffern eins bis vier sehr hilfreich.

„Mama, drei plus zwei ist fünf. Fünf plus fünf ist zehn. Eins plus neun ist zehn. Sechs weniger drei ist drei.“  Seine Welt scheint momentan von Zahlen dominiert zu sein. Buchstaben hingegen interessieren ihn – bis auf jene des eigenen Namens – eher wenig. Und doch geht er auf eigenen Wunsch in Musik-Kreativ und singt auch im kindergarteninternen Blumenchor. Mal sehen, was die Zukunft für ihn bereithält. Die statistische Wahrscheinlichkeit eines Uni-Abschlusses ist bei ihm jedenfalls um einiges höher als sie bei mir war.

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